Veronica Anntonucci (38) Biel. Designerin, ehemalige Sozialarbeiterin, musste erst Schrauben sortieren, bevor sie ihre Passion leben durfte.
Veronica in ihrem Studio mit einer Auswahl ihrer Ohrringe. Foto: Nils Sandmeier
Der Klient ist ausgetickt. Er wollte auf einen Kollegen los, ich ging dazwischen und habe die Schläge abgekriegt. Einst war ich eine super ambitionierte Sozialarbeiterin. Aber dieser Vorfall hat alles verändert.
Weil ich neu war, wurden mir die dringenden Fälle zugeteilt. Im Geschäft haben sie es mit einer Entschuldigung abgespiesen. Ich musste ihn weiter betreuen. Ich konnte ihn auch nicht anzeigen. Nichts. Als er plötzlich, vielleicht nur per Zufall, vor meiner Haustür stand, begann die Abwärtsspirale zu drehen. Ich hatte das Gefühl «Der sucht mich. Der will mich fertig machen.». Ich hatte Angst. Jedes Mal, wenn ich ihn in der Stadt gesehen habe, löste es eine Panikattacke aus. Ich musste deswegen aus der Stadt wegziehen.
Obwohl ich meine Probleme wiederholt thematisierte, sagten sie mir im Geschäft, niemand sonst könne den Fall übernehmen. Neun Monate nach seinem Ausraster, musste ich in die Zwangsferien. Auf der Burnoutstation musste ich ernsthaft über mein Verhältnis zu Arbeit nachdenken. Als Ausländerin musste ich immer dreimal so viel leisten, um gleich gut zu sein. Ich fand immer, ich hätte erst genug gearbeitet, wenn ich schon völlig fertig war. Das habe ich erst in den 13 Wochen Aufenthalt verstanden. Ich fragte mich: «Gibt es auch etwas anderes, als die jetzige Arbeit?» Da wurde mir klar, dass ich nicht mehr zurückkonnte. Ich wollte meine Kreativität ausleben. Ich wollte in die Modebranche.
Ich wollte keine IV-Rente!
Sie haben aber vorgeschlagen mich zu berenten. Mit 30 Jahren! Ich wollte keine IV Rente, ich wollte etwas tun, was mir gut tat. Ich wollte eine Umschulung in Richtung Mode machen. Stattdessen musste ich in der Werkstatt mit psychisch beeinträchtigen und minderintelligenten Menschen Schrauben sortieren. Erst wollten sie mich sogar in eine Stiftung tun, in der ehemalige Klienten von mir waren. Damals überkam mich der Gedanke: «Das ist es jetzt.» Ich würde den Rest meines Lebens gegen meinen Willen so verbleiben und Schrauben sortieren. Da ging es mir erst richtig mies.
Später habe ich mir selbst ein Praktikum bei einem Berner Modelabel verschafft. Ich konnte bei Kollektionen mithelfen, einfache Schneiderarbeiten erledigen und im Laden arbeiten. Was für eine Wohltat! Für mich war es zudem Beweis, dass ich belastbar war und Talent hatte. Ich wollte diese Umschulung mehr denn je aber ich musste warten. 2 ganze Jahre dauerte es, bis ich endlich den Termin bei den IV Ärzten hatte, die mir die Umschulung bestätigten. Ich war glücklich. Das Geld der IV und mein Erspartes konnten aber nicht die vollen drei Jahre der Ausbildung decken. Das dritte Jahr konnte ich mir, trotz aller Bemühungen weiter Geld aufzutreiben, nicht mehr leisten. Darum habe ich in Genf ein Produktdesign Studium aufgenommen, um wenigstens einen Bachelor ausweisen zu können. Aber es kam anders.
Besser: Für das MIS-Magazin durfte ich, während dem Studium eine Special Edition machen. Ich nahm Acrylglasreste die im Atelier rumlagen und entwarf daraus eine Schmuck-Kollektion. Ich war begeistert – vom Material, dem Nachhaltigkeitsgedanken, der Anlehnung an Pop Art. Perfekt gepasst hat es und es war der Startschuss für eine rasante Entwicklung. Meine Dozentin und das Magazin haben mich für den Blickfang vorgeschlagen. Ich gewann einen 8m2 Stand wofür ich meine Kollektion erweiterte. Etwas später sah ich eine Ausschreibung. Sie suchten neue Designer für die Milano Designweek 2019. Mein Selbstvertrauen war gestärkt, also habe ich mein Portfolio geschickt. Obwohl sie normalerweise keine Schmuckdesigner zuliessen, wählten sie mich aus. Ab dann ging es nur noch steil.
Heute arbeite ich sehr viel. Aber es ist ein anderes Verhältnis zu Arbeit. Ich habe ein grosses Atelier in einer alten Fabrik. Ich gehe an Mode- und Design Messen nach Mailand, Rom, Eindhoven, Helsinki. Ich mache Kollaborationen mit Mourjjan und Mode-Suisse. Mein Label wird in der Annabelle, NZZ, Hochpartere und Vogue gefeatured. Ich musste Leute anstellen, weil ich nicht mehr alles selbst bewältigen kann.
Und wenn es nicht funktioniert, dann ist es nicht schlimm.
Als Sozialarbeiterin wollte ich mit sehr viel Effort Menschen zu etwas mehr Glück verhelfen. Jetzt als Schmuckdesignerin kriege ich so viel mehr Dankbarkeit und Freude zurück. Ich kriege Nachrichten von Menschen, die sich über meine Ohrringe freuen und sagen sie hätten sich etwas gegönnt. Ich bin so happy. Mein Schmucklabel ist mein Baby. Ich führe ein Business, mit dem ich andere Frauen anstellen und ihnen einen Lohn zahlen kann. Das ist mein Erfolg. Darauf bin ich stolz.
Ich glaube für Menschen in einer unglücklichen Situation, ist es das Beste sich selbst eine kurze Auszeit zu nehmen. Sich zurückziehen, eine Standortbestimmung machen, sich fragen «was will ich eigentlich» und dann dieses Ziel strukturiert und geplant angehen. Auch gegen Widrigkeiten. Man soll sich nicht zurückschrecken lassen, dass man mit 35 zu alt für eine Ausbildung sei. Man könnte denken «oh non, dann bin ich ja 42 wenn ich fertig bin.» Aber 42 wird man ja sowieso, dann wenigstens glücklich mit dem was man macht. Und wenn es nicht funktioniert, dann ist es nicht schlimm. In der Schweiz schaut man Misserfolge dann als Versagen an. Aber das stimmt überhaupt gar nicht. Man versucht seine Situation zu verbessern und steht für sich ein. Das ist nicht Versagen – es ist das Gegenteil.