Münzen als Symbolbild

Das liebe Geld: Es ginge auch anders

09.01.2023 von Jonas Wydler

Arbeit zahlt sich aus, oder? Nun, für immer mehr Leute trifft das nicht zu. Trotz Fulltime-Job bleibt Ende Monat nichts mehr übrig. Es ist höchste Zeit für alternativen Lebensmodelle fernab des Kostendrucks und der Existenzangst.

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Die von Konflikten verschonte Nachkriegsgeneration ist mit einem grossen Versprechen gross geworden: Arbeit zahlt sich aus. Tüchtigkeit führt zu Wohlstand. Zu einem angenehmen Leben mit Auto, Haus und einem gesicherten Ruhestand. Eine sorgenlose Mittelschicht ist herangewachsen, die das Einfamilienhaus zum Ziel ihres Lebensentwurfs deklariert hat.

Willkommen in der Meritokratie, der «gesellschaftlichen Vorherrschaft einer durch Leistung und Verdienst ausgezeichneten Bevölkerungsschicht». Wer oben ankommt, hat sich das mit Fleiss und Pflichtgefühl verdient. Über Geld spricht man nicht, man verdient es sich. Die Erzählung der Tellerwäscher:innenkarriere – jede und jeder kann es schaffen! – hält sich hartnäckig. Dumm nur, dass sie immer weniger stimmt. Die Meritokratie ist in der Krise, sagt nicht nur der britische Cambridge-Historiker Peter Mandler in seinem gleichnamigen Buch1.

Reden wir über Geld: Die Umverteilung 

Die Einkommensschere mag anderswo extremer sein, doch auch hierzulande ist sie beträchtlich: Das am wenigsten verdienende Zehntel der Vollzeit-Beschäftigten verdient netto knapp mehr als 4000 Franken – das oberste Zehntel fast 11'000 Franken, wie Lohnzahlen des Bundesamts für Statistik2 zeigen.

Der Gap ist erklärbar: mit Verantwortung, mit der Ausbildung, mit der Branche. Aber das Lohnwachstum stockt. Und so bleibt für einen guten Teil der Bevölkerung Ende des Monats nichts übrig. Miete, Krankenkasse, Kinderbetreuung und jetzt auch noch die Energiekosten lassen grüssen. Wenn wir den Blick weg von der klassischen Lohnarbeit, hin zur Kapital- und Immobilienbranche wenden, wird’s einem erst recht schwindlig. Reicht wird heute nur, wer ein eigenes Unternehmen gründet, Immobilien besitzt oder an der Börse handelt.

Oder wer erbt: Jeder zweite Vermögensfranken in der Schweiz wird vererbt, wie eine Langzeitbetrachtung zeigt3. Wir stehen inzwischen bei 95 Milliarden Franken Erbschaft jährlich, vor 20 Jahren war es nicht mal die Hälfte. Das heisst: Ein immer grösserer Teil des Vermögens bleibt innerhalb des gleichen Kuchens. Dass es jede:r schaffen kann, ist ein Märchen. Wie viel wir verdienen, was wir werden und wie viel wir uns leisten und auf die Seite legen können – all das hat sehr viel mit Glück zu tun.

Geldnoten ausgelegt
Wie sieht unser Umgang mit Geld aus?

Das heisst: Ein immer grösserer Teil des Vermögens bleibt innerhalb des gleichen Kuchens. Dass es jede:r schaffen kann, ist ein Märchen. Wie viel wir verdienen, was wir werden und wie viel wir uns leisten und auf die Seite legen können – all das hat sehr viel mit Glück zu tun.

Neue Chancen und Muster tun sich auf

Du wirst also kaum reich werden, wenn du einer normalen Arbeit nachgehst. Das ist vielleicht frustrierend. Aber es öffnet den Blick auf neue Möglichkeiten und Chancen. Auf Alternativen fernab des Geldverdienens, dafür mit einem grossen Impact auf unsere Gesellschaft und unser Zusammenleben. Und vielleicht ist jetzt, da sich Krise an Krieg reiht, ein besonders guter Moment für neue, solidarische Lebensmodelle. Wenn Gewissheiten bröckeln und Überzeugungen wanken, sind Zusammenhalt und Vertrauen die sichersten Währungen.

Teilen macht glücklich und ist gesund. Das zeigt das Beispiel der griechischen Insel Ikaria – wegen ihrer kommunistischen Prägung auch «Rote Insel» genannt4. Das gesellschaftliche Teilen ist tief in der dortigen Mentalität verankert. Und die Insel hat eine der höchsten Lebensalterserwartungen der ganzen Welt. Die Bewohner:innen sind überzeugt: Der Grund dafür ist, dass trotz bescheidenem Lebensstil weniger existenzielle Ängste herrschen.

10 Tipps für Alternativen für einen anderen Umgang mit Geld

Du musst nicht gleich den Kapitalismus abschaffen. Es gibt im Kleinen praktikable Möglichkeiten, um dem Leistungsprinzip und dem Diktat des Geldes zu entkommen. Ein paar Tipps:

  1. Was kannst du besonders gut? Und gibt es Menschen in deinem Umfeld, die um deine Hilfe froh wären? Sei es Stricken, eine Lampe montieren oder mit dem Hund rausgehen.
  2. Tausch dich aus und frag in der Nachbarschaft, im Freundeskreis oder der Familie: Welche Erfahrungen machen sie mit Tauschgeschäften?
  3. Schliesse dich Netzwerken an: Es gibt Whatsapp-Gruppen, Netzwerke und Communitys, die das gleiche wollen.
  4. Kaufe anders ein – etwa bei Kooperativen, die direkt bei den Produzenten bestellen. Auch das Gemüseabo direkt vom Hof ist eine gute Alternative zum Grosshändler.
  5. Sharing is Caring: Vieles musst du nicht kaufen, sondern du kannst es teilen oder mieten.
  6. Muss es neu sein? Nicht nur Kleider, sondern auch Handy, Laptop und Velo gibt es aus zweiter Hand.
  7. Informiere dich: Weltweit gibt es immer mehr Initiativen, die sich dem Diktat des Geldes entsagen. Etwa Common-Wallet-Gemeinschaften.
  8. Müssen es 100 Prozent sein? Ein Tag weniger arbeiten und den Tag dafür einer gemeinnützigen Arbeit spenden. Der Profit: Ausgeglichenheit und Zufriedenheit.
  9. Lokal und digital: Im neu entdeckten Bekenntnis zur Lokalität liegt eine grosse Zukunft – und die Digitalisierung eröffnet für Sharing-Economy-Angebot ungeahnte Perspektiven. Der digitale Hofladen ist erst der Anfang.
  10. Flicken statt Wegwerfen: Kaputte Dinge erhalten ein neues Leben, etwa bei den schweizweiten Repair Cafés.

Sharing is Caring: Teilen liegt im Trend

Auch bei uns kaufen sich immer mehr Menschen Dinge nicht, sondern «sharen» sie. Bohrmaschine, Schlitten, das Auto oder Babyklamotten kann man sich genauso gut leihen und wieder weitergeben. Von professionellen Vermittlern bis zu nachbarschaftlichen Initiativen entstehen neue Ideen. Ebenso verhält es sich mit Leistung, Ressourcen oder Geld: Das alte Prinzip des gegenseitigen Gebens und Nehmens erlebt eine Renaissance. Die Pandemie hat Sharing-Modelle und die Ideen dahinter gestärkt. Muss Leistung immer gegen Geld abgegolten werden? Gibt es sozialere Alternativen? Alternativen zum Hamsterrad von Lohnarbeit und Konsum?

Die Soziologin Eva Illouz sieht eine neue Ära kommen, wie sie in einem Interview5 sagte. Sie hofft auf neue Netzwerke und neue Formen der Solidarität: «Wenn die Menschen alternative Netzwerke der Solidarität aufbauen, ist das sehr positiv.» Sie glaubt, dass viele Menschen anstelle der Familie eine neue Gemeinschaft von Freunden und Kollegen suchen.

Pflanze wächst aus Münzen
Geld vermehren oder verteilen?

Der Traum vom gemeinsamen Geld

In den letzten Monaten war viel über ein solidarisches Geldexperiment zu lesen, das sich in Städten weltweit etabliert: das Prinzip des Common Wallets – also einer gemeinsamen Ökonomie.

Den Anfang machten elf Freunde in Brüssel6, die sich das Bankkonto und somit ihr Budget teilen. Das gesamte Einkommen wird zusammengelegt. Und je­de:r verwendet daraus so viel Geld, wie er oder sie braucht – unabhängig davon, wie viel sie beisteuern. Was auf den ersten Blick nach Missbrauch schreit und unfair erscheint, kann funktionieren. Aus dem anfänglichen Experiment ist ein Lebensstil geworden. Die Idee findet neue Abnehmer, auch in der Schweiz7. Das Prinzip bedingt, dass man sich vertraut und offen und regelmässig kommuniziert. Probleme tauchen trotzdem früher oder später auf. Was, wenn jemand unverhofft eine Schenkung erhält? Jemand dauernd in die Ferien fährt? Und was, wenn kein Geld mehr für meine günstige Fahrt in die Berge bleibt, weil der WG-Kollege soeben einen Trip nach New York gebucht hat?

Die Patentlösung gibt es nicht, aber wer sich auf das Abenteuer des Common Wallet einlässt, erlebt auf einer anderen – nicht monetären – Ebene einen Mehrwert. «Unsere Beziehung zum Geld neu zu denken, ist eine sehr tiefe, wesentliche Erfahrung. Common Wallet schafft Vertrauen und Empathie und dadurch mehr existentielle Sicherheit. Dieser emotionale Teil ist wichtig», sagte eine der Teilnehmerinnen zur deutschen «Tageszeitung»8. Sie findet in dieser Community das, was andere sich von der Familie erhoffen: Liebe und Vertrauen.

Das Geld der Community

Ähnlich wie beim Common Wallet läuft es bei Ting. Das System beruht auf dem Prinzip der Investition in das Potential aller Menschen, statt nur in Geld. Und es basiert auf der Idee einer Umverteilung. Ting versucht den Teufelskreis der Leistungsgesellschaft zu durchbrechen und den Fokus weg von Besitz hin zur Sinnhaftigkeit zu shiften.

Wer seine Beziehung zum eigenen Geld hinterfragt, merkt: Es ginge auch anders. Und es tut gut, vertrauen zu können.

Ting - anderer Umgang mit Geld

 

Wie viel Geld brauche ich wirklich? Wie viel Geld brauchst du wirklich? Alle Mitglieder zahlen monatlich einen Betrag auf ein Gemeinschaftskonto ein. Wir bauen zusammen ein Vermögen auf, das allen transparent und in Form eines zeitlich begrenzten Einkommens zur Verfügung steht. So entsteht Raum für persönliche Weiterentwicklung, Bildung, Innovation und Unternehmerisches. So entsteht Zukunft. #tingting

 

Wie es genau funktioniert?

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Quellen: 1) Peter Mandler 2) bfs.admin.ch 3) socialchangeswitzerland.ch 4) Tagesspiegel 5) tagblatt.ch 6) taz.de 7) tagesanzeiger.ch 8) taz.de 

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