«Jeden Tag muss man ein Ding finden, das einem in die Richtung Traum trägt.»

20.06.2020 von Ondine Riesen

Alexander Boldachev (30) Zürich. Künstler, Profimusiker, Komponist und Festivalorganisator

 

Teilen

Foto: Belka Rich

Ich wurde Musiker, als ich vier war. Alles war recht ernsthaft in meinem Leben. Ich war schon mit sechs auf der Bühne und seither hab ich immer Verantwortung gefühlt. Nicht nur als Kind, sondern auch als erwachsener Musiker. Als ich neun war, war ich zum ersten Mal mit einem Orchester auf der Bühne mit 1’000 Leuten im Publikum. Das war in Vilnius, Lettland. Seit dann ist jeder nächste Schritt ein Akt des Mutes. Man kennt seine eigenen Grenzen ja nicht, also gehe ich vorwärts in eine Sphäre, die ich nicht kenne. Da erforsche ich mich selbst und die Welt. 

Bis ich 25 war, war ich so fokussiert mit meiner Musik, meiner Ausbildung – ich bin in Strom geflossen. Ich habe einfach alles akzeptiert. Es war die Neugier der Leute, die meine Karriere antrieb. Wenn man ein sogenanntes Wunderkind ist, wird man selbst zur Show. Erst später konnte ich mich von dem Lösen. Ich bin keine Show mehr und muss mich als Musiker beweisen. Mit 15 bin ich von Russland nach Zürich gekommen. Als meine Lehrerin in Russland verstand, dass meine Eltern kein Geld für mein Studium aufbringen konnten, hat sie mir geholfen. Sie hat mir die Studiengebühr und das Studierenden-Wohnheim bezahlt – aber das Essen hat sie vergessen. Neben dem Studium, der Harfe, den Videogames und dem Lernen der Sprache, war ich vor allem damit beschäftigt Geld zu finden, um mein Essen zu kaufen. Im ersten halben Jahr habe ich 7 Kilo verloren, weil das Essen in Zürich so teuer ist. Ich habe Konzerte gespielt, versucht Stipendien zu kriegen, ich habe im Theater gearbeitet, unterrichtet. Aber ich war glücklich.

Wir denken immer an die Zukunft. An etwas, was wir in der Zukunft erreichen wollen. Aber das Leben sollte doch jetzt sein – im Präsens. Jeden Tag muss man ein Ding finden, das einem in die Richtung Traum trägt. Für mich jedenfalls waren es immer kleine Schritte. Ich habe ein Beispiel. Das ist erst gerade passiert. Ich hatte Geburtstag – ich wurde 30. Ich träumte davon, mit 30 in der Carnegie Hall in New York zu aufzutreten. Aber um da spielen zu können, muss man 25’000 Doller aufbringen. Die ich nicht habe. Also habe ich immer allen von diesem Traum erzählt und gezeigt wie sie mir dabei helfen könnten. So konnte ich mit Hilfe dieser Menschen das Geld und das Publikum organisieren. Die Harfe ist üblicherweise kein Instrument, das Säle füllt, aber ich habe es mithilfe anderer zu meinem 30. Geburtstag geschafft!

Man sollte an den Traum denken, als wäre er schon passiert. Und dann muss man sich überlegen, was man dazu braucht. Wenn man den Everest erklimmend will, muss man Schritte dafür tun. Man muss zum Beispiel gesund sein, einen Instruktor und Equipment haben. Wenn man morgens aufsteht, kann man denken «was kann ich heute für meinen Traum tun?» Ich kann ins Gym gehen, meine Kondition verbessern, einen Instruktor fragen, sich Equipment besorgen. Man macht einfach eins nach dem anderen. Dasselbe passierte mit Carnegie Hall. Ich wusste, es braucht Geld und Promotion. Ich brauchte einen PR Menschen, ich musste Informationen sammeln, nach New York reisen und little by little kam es zusammen. 

Ich sehe das Leben als leere Gläser, die man mit Wasser befüllen darf. Aber Menschen glauben, es sei ein einziger grosser Kübel, den sie füllen müssen. Daran scheitern sie.

Ich habe auch Ängste. Ich habe zum Beispiel permanent Angst davor falsche Entscheidungen zu treffen, die mich dann schliesslich in eine falsche Richtung führen. Es ist schwer im jetzt zu entscheiden, ob sich die Entscheidung im Nachhinein als gut oder schlecht entpuppt. Mit dieser Unsicherheit muss ich leben. 

Ich bin während des Lockdowns zu Hause gehockt und war ziemlich verstimmt. Jeden Tag habe ich weitere Konzertabsagen meiner Welttournee erhalten, für die ich mich vorgängig ins Zeug gelegt hatte. Wie gesagt, Konzerte für Harfe zu organisieren ist nicht ganz einfach. 37 Absagen: für mich ist die Welt auseinandergefallen. Also ging ich joggen. Ich dachte, wenn ich ums Haus joggen kann, kann ich auch weiter gehen. Ich denke, Musiker*innen und andere Kreative haben eine Kraft, ein neues Normal zu kreieren. Also habe ich meine Harfe gepackt und bin losgezogen. Zu Fuss. Mit dem Ziel, nach Neuchatel zur prähistorischen Fundstelle La Tène zu wandern. Die keltische Kultur hat die keltische Harfe hervorgebracht, die tausende Jahre später mein Leben so stark beeinflusst. Ich entschied den historischen Weg über Lenzburg und Balsthal zu gehen. Das ist mein Beitrag: Ich verschaffe Menschen auf dem Weg Zugang zu diesem Instrument, schenke ihnen Musik und neue Perspektiven. 

Mein Motto ist «everything is possible». Ich glaube, das stimmt. Der Rest sind nur die Tools. Wenn Du glaubst, dass etwas möglich ist, musst du einfach die richtigen Tools finden, es möglich zu machen. 

alexanderboldachev.com

Teilen