Sanduhr

Leisten wir uns Zeit!

19.03.2024 von Anne Flückiger

Zeit ist der Taktgeber unserer Tage, Wochen, unserer Lebenszeit. Manchmal praktisch, manchmal nervig, manchmal einfach da. So zentral die Zeit für das menschliche Erleben ist, so ungreifbar ist sie. Ting lebt davon, Zeit zu schaffen - weshalb wir uns ans Thema wagen.

Teilen

Die Zeit hilft, zu planen, weil wir die objektive Dauer von Dingen messen können. Ob das nun ein Meeting, eine Zugfahrt oder ein Kinofilm ist. Die subjektive Dauer variiert dann allerdings sehr stark: Wir alle wissen, was zwei Stunden sind. Oder? Zwei Stunden Meeting? Zu lang. Zwei Stunden Zugfahrt? Eher lang. Zweistündiger Film im Kino? Voll okay. Der gleiche zweistündige Film daheim auf dem Sofa? Zu lang. Dann lieber zwei einstündige Folgen «The Crown», die sind kürzer. Das zeigt, wie komplex das Thema Zeit und Zeitwahrnehmung in Wirklichkeit ist. Wir wollen versuchen, es von verschiedenen Seiten zu beleuchten.

Definitionen von Zeit

Definitionen und das Verständnis von Zeit beschäftigen eigentlich alle Gebiete, die sich mit der Natur, dem Erleben und der Organisation der Welt auseinandersetzen. Die Physik, natürlich. Die Philosophie, ja. Aber auch die Biologie, die Soziologie, die Anthropologie, die Psychologie. Und auch die Politik. Das zeigt, wie zentral Zeit für das menschliche Erleben ist. Dabei ist die Definition hochkomplex und fällt all diesen Gebieten – selbst der Physik – gar nicht so leicht. 

Tag und Nacht sind erst einmal die logischsten Einheiten von Zeit. Sie formen einen klaren Tagesrhythmus aus Licht und Dunkelheit und damit natürliche Abläufe in der Chronobiologie, unserem inneren Tag-Nacht-Rhythmus. Auch, wenn sich der Mensch diesen Abläufen seit der Entdeckung des Feuers, also des Lichts, und später der Elektrizität zu widersetzen sucht. Die Physik sieht die Zeit als eine sich einseitig ausdehnende, fortlaufende Strasse, eine unumkehrbare Abfolge von Ereignissen. Einsteins Relativitätstheorie beschreibt die sogenannte Zeitdilatation, dass Zeit also je nach äusseren Einflüssen schneller oder langsamer fortschreiten kann, während Isaac Newton vor ihm die Zeit als immer gleich voranschreitende Variable ansah. Ähnlich sieht auch die Quantenmechanik die Zeit, weshalb die Relativitätstheorie und die Quantenphysik unvereinbar scheinen. Die Definition von Zeit selbst ist also auch die Wurzel der hochaktuellen Suche der Physik nach einer Weltformel, einer Theorie von Allem, und ist bei Weitem nicht abschliessend beantwortet.

Der erlernte Zeitbegriff

Weil die Zeit für uns so zentral ist, fällt es schwer zu begreifen, dass unser Zeitverständnis erlernt ist. Tatsächlich sind Zeitverständnis und Zeitwahrnehmung aber stark kulturell geprägt. Schon nur unsere eigene konsequente Einordnung in die Zeit, in der Minuten, Stunden, Tage oder Wochen zum Massgeber unseres Alltags werden, ist gelernt. Auch, dass wir Pünktlichkeit und Effizienz als besondere Tugenden ansehen. Ebenso, dass uns vielbeschäftigte Menschen, die ständig auf Trab sind und ihre Zeit möglichst ausfüllen, besonders interessant erscheinen. Davon schreibt zum Beispiel Teresa Bücker in ihrem jüngst erschienen Buch «Alle_Zeit» (siehe Quellen) Das sind gesellschaftliche, durchaus auch kapitalistische Strukturen, in die wir hineinwachsen, sie deshalb nicht mehr in Frage stellen und sogar mitprägen.

Andere Länder, andere Sitten

Dieses an Optimierung und Effizienz orientierte Verständnis von Zeit herrscht vor allem in Westeuropa und Nordamerika vor. Andere Kulturen nehmen Zeit anders wahr und gehen anders damit um. Autor Robert Levine untersucht im Buch «A Geography of Time» (siehe Quellen) verschiedene kulturelle Aspekte von Zeit und Lebenstempo.

Auf Platz 1 mit dem schnellsten Lebenstempo landet bei ihm die Schweiz; Deutschland, über dessen Zeitnot Teresa Bücker schreibt, auf Platz 3. Acht der zehn Länder mit dem höchsten Lebenstempo liegen in Europa; die anderen beiden sind Japan auf Platz 4 und Hongkong auf Platz 10.

Gerade aus Japan hörte man schon in den 1990er Jahren von der sogenannten «Karoshi-Kultur», in der sich Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode schufteten und aufgrund von arbeitsbedingten Körperversagen quasi am Schreibtisch starben. Am anderen Ende von Levines Skala, auf Platz 29 von 31, liegt zum Beispiel Brasilien, wo der Autor, wie er selbst sagt, nichts so oft gesagt bekam wie «calma, por favor!» - «beruhig dich doch bitte mal!».

Hände mit Sand als Symbol für die zerrinnende Zeit
Wie subjektiv ist das Zeitempfinden? Wo zerrinnt Zeit?

Die Zeit als Massgeber

Uns nach der Zeit zu richten statt die Zeit nach uns ist in unserer Gesellschaft üblich. Meistens haben wir für bestimmte Tätigkeiten eine bestimmte Zeit zur Verfügung, anstatt dass die Tätigkeit bestimmt, wie lange sie dauert. Agenda und Uhr sind der Taktstock. Das lernen wir bereits in der Schule, mit strengen Stundenplänen, in zeitlich begrenzten Prüfungen und sogar beim Spiel. Ein Kind lernt nicht, solange es Lust hat, löst Aufgaben nicht, solange es dafür braucht und spielt oft nicht, solange es Lust hat, sondern tut das alles, solange es Zeit hat. Bis die Schulstunde oder die Pause vorbei ist, oder der nächste Termin im vollen Kalender ansteht. Wir werden ab Kindesalter zu funktionierenden Teilen unserer Zeitkultur erzogen.

Arbeitszeit, Zeitarbeit

Arbeit benötigt Zeit – das war schon immer so. Auch vor den präzisen Zeitmessern, als Jahreszeit, Wetter und Tageslicht die Arbeitszeiten bestimmten. Heute gibt aber eben in vielen Tätigkeiten nicht mehr die zu verrichtende Arbeit Zeitpunkt und Dauer vor, sondern umgekehrt: Die vorgegebene Zeit regiert die Arbeit.

Der 8-Stunden-Arbeitstag wird mittlerweile als so selbstverständlich erachtet, dass er zumindest in der Realpolitik kaum mehr hinterfragt wird. Obschon Studien immer wieder zeigen, dass ein kürzerer Arbeitstag die gleiche Produktivität, eine grössere Zufriedenheit und bessere Gesundheit bringen würde. Als er eingeführt wurde, war der 8-Stunden-Arbeitstag eine grosse Errungenschaft von Fabrikarbeiterinnen und -arbeitern, die sich in Gewerkschaften mehr Freizeit zur freien Gestaltung des Lebens und zur Erholung erkämpften. Das ist aber über 100 Jahre her, wie Teresa Bücker betont. Viel hat sich verändert in der Zwischenzeit – vor allem, was unsere Effizienz und Produktivität angeht. Grundsätzlich müsse man sich sowieso bei allem, was mehr als 100 Jahre alt ist, fragen, ob das noch zeitgemäss sei, so Bücker.

Zeitnot trotz Zeit

In der westlichen Welt gilt Zeit als Ressource. Wir merken das auch daran, wie wir darüber sprechen: Time is money, heisst der bekannte Ausspruch: Zeit ist Geld. Wir investieren Zeit oder verschwenden sie. Und wie beim Geld haben auch bei der Zeit Reiche mehr Möglichkeiten. Sie verdienen genug, um sich ihr Leben zu finanzieren, und können sich Freizeit erkaufen, indem sie sich zum Beispiel Teilzeit oder unbezahlten Urlaub «leisten» oder manche Arbeiten einfach auslagern, etwa, indem Sie eine Reinigungskraft anstellen, für die Kinder eine Nanny haben oder öfters auswärts essen gehen. Interessanterweise empfinden aber gerade Menschen in diesen Gesellschaftsschichten eine besondere Zeitnot, obwohl sie theoretisch so viel Freizeit haben wie noch nie. Gründe dafür: Prestige-Jobs gehen oft mit der Erwartung einher, dass Überstunden geleistet werden – egal, wie sinnvoll diese für die Arbeit sind. Care-Arbeit wie Kinderbetreuung oder Pflege fallen in die Freizeit. Jede freie Minute wird verplant, weil das gesellschaftlich als interessantes Leben angesehen wird. Und nicht zuletzt verlangt die kapitalistische Gesellschaft, dass möglichst viel Geld verdient und ausgegeben wird. 

Eine Uhr als Münze als Symbol für das Sprichwort "Zeit ist Geld"
Inwiefern ist Zeit auch Geld?

Ting - Verschafft einander Zeit

 

Wir ermöglichen Menschen, sich Zeit zu leisten. Zeit, um gute Ideen zu verfolgen, Probleme zu lösen und die Gesellschaft statt des Hamsterrades voranzutreiben. Alle Mitglieder zahlen monatlich einen Betrag auf ein Gemeinschaftskonto ein. Wir bauen zusammen ein Vermögen auf, das allen transparent und in Form eines zeitlich begrenzten Einkommens zur Verfügung steht. So entsteht Zeit für den Wandel. #tingting

 

Wie es genau funktioniert?

Mehr dazu

Die grosse Freiheit

Teresa Bücker bezeichnet das Verfügen und Bestimmen über die eigene Zeit als die wahre Freiheit. Wir bleiben aber oft in unseren gesellschaftlichen Strukturen und unserem erlernten Zeitverständnis gefangen. Daraus auszubrechen fordert Mut und neue Denkweisen. «The secret […] is always to be a little underemployed» sagte der Psychologe Amos Tversky, der mit seinem Kollegen und späterem Nobelpreisträger Daniel Kahnemann in den 70er Jahren das Feld der Psychologie aufrollte. «You waste years not being able to waste hours.»: «Das Geheimnis […] ist, immer etwas unterbeschäftigt zu sein. Du vergeudest Jahre, weil du keine Stunden vergeuden kannst.» Durch unsere künstlich erschaffene, ständige Beschäftigung merken wir gar nicht, wie die Zeit vergeht – die Sekunden, Minuten, Stunden verstreichen, unsere Lebenszeit vertickt. Mut und neue Denkweisen kommen gar nicht erst auf, weil kein Freiraum, keine Freizeit dafür besteht. Nur muss man es sich eben erst einmal leisten können, immer etwas unterbeschäftigt zu sein, was unsere heutige Gesellschaft kaum zulässt. Projekte wie Ting versuchen, gesellschaftliche Strukturen anders zu denken und solche Freiräume zu schaffen. Ting ermöglicht Menschen, sich Zeit zu leisten. Zeit, um gute Ideen zu verfolgen, Probleme zu lösen und die Gesellschaft statt des Hamsterrades voranzutreiben. Zeit für einen Wandel.

Mehr zum Thema

Das Ting Team empfiehlt...

 

Auf den Punkt gebracht: Roman Tschäppeler (#tingting) und Mikael Krogerus erinnern uns daran, dass die alten Griechen zwei Wörter für Zeit hatten: Chronos, die quantitative Zeit und Kairos, die qualitative Zeit. Der Unterschied liegt fein zwischen messbar und erlebbar. Visualisierung

 

Der Rosa Blick: Barbara Bleisch spricht mit dem Beschleunigungstheoretiker Hartmut Rosa. Je reicher die Gesellschaft wird, umso stärker sinkt der Zeitwohlstand. Wir verteilen unsere Aufmerksamkeit, dies führt dazu, dass für das Einzelding weniger Zeit bleibt. Interview

 

Alles eine Frage der Zeit: Zeitnot und Hektik prägen unsere Gesellschaft. Gemäß dem Motto Zeit ist Geld kämpfen wir gegen alles Langsame, Bedächtige oder Pausierende, oft bis zur Erschöpfung. Dafür zahlt auch die Natur einen hohen Preis. Der Bestseller von Harald Lesch, Karlheinz A. Geißler und Jonas Geißler. Buchtipp

 

Durch die Zeit reisen: Das Schweizer Reisemagazin Transhelvetica hat der Zeit 2022 eine ganze Ausgabe gewidmet. Gedankenexperimente darüber, was vor der Zeit gewesen sein könnte und ob es ein Leben gibt, nachdem die Zeit abgelaufen ist, sind inklusive. Magazin

 

Zeitforschung: Ivo Muri ist Zeitforscher und Gründer des Forschungsinstitutes «Nomos der Zeit». Er unterstützt die Menschen auf der Suche nach ganzheitlichen Lösungen von Zeitproblemen und den damit verbundenen Gesellschaftsproblemen. Texte

Quellen: Teresa BückerRobert N. LevineWiredImpulse.deNewyorker.com

Vielen lieben Dank Anne 💚

Teilen