«Macht es das Herz eng oder weit?»

09.12.2020 von Ondine Riesen

Sandro Pichler (36) Coach, Alpnachstad

 

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Die Angst vor dem Ungewissen war da. Habe ich genug finanzielle Mittel? Kann ich das – ohne Chef und Mitarbeitende? Gibt es Klienten? Will das überhaupt jemand? Was denkt mein Umfeld? Mal war die eine Frage präsenter, mal die andere. Ich glaube, das ist verständlich, nachdem ich 14 Jahre in dieser Firma gearbeitet hatte. Ich war stellvertretender Geschäftsführer. Das alles zu verlassen, bedurfte schon Mut. Aber ich bin ja nicht eines Morgens aufgewacht mit dem Plan: «So jetzt mache ich mich selbständig». Es war ein gradueller Prozess.

Er begann, als ich bemerkte, dass ich nicht mehr mit vollem Herzen bei meiner Arbeit war. Ich war zwar sehr involviert und habe mich stark über den Job identifiziert, aber da war diese leise Ahnung, dass es bis zur Pension noch mehr gibt, als diesen Job täglich von 7 bis 5 auszuüben.

Beruflich bedingt begleiteten mich Persönlichkeitsentwicklung und Psychologie schon lange. Die diversen Kurse und mein wachsendes Interesse in diesem Gebiet motivierten mich nebenberuflich eine Ausbildung zum Coach zu absolvieren. Schon während der Ausbildung, aber vor allem nach dem Abschluss war die Lust gross, mich damit selbständig zu machen.

Aber wie gesagt: Ich arbeitete während 14 Jahren in dieser Firma. Ich fühlte mich so verbunden, dass ich mir kaum vorstellen konnte, alles was ich mir aufgebaut hatte, loszulassen. Mein Ego wollte auch nicht mit der Idee warm werden, dass die Firma ohne mich funktionieren würde. Schwieriger noch war, das «Gesamtpaket Sicherheit» aufzugeben. Die Angst vor dem Ungewissen war real: «Was kommt dann?» 
 

Ich wusste genau, was ich wollte. Ich musste es nur noch selbst verstehen.

Viele Leute tun sich schwer damit, sich zu entscheiden. Sie schwanken gefühlte 20 Jahre hin und her und kommen nicht vom Fleck. So wollte ich nicht sein. Ich setzte mich hin und stellte mir die nützliche Frage: «Macht es mein Herz eng oder macht es mein Herz weit?» Das hat mich geleitet. Ich glaube, es gibt zwei Aspekte, die zu Entscheiden führen. Erstens: Gibt es ein Ziel oder eine Vision, auf die man richtig Lust hat? Das war bei mir der Fall. Zweitens: Ist der Schmerz so gross, dass man es zurücklassen muss? Ich wusste genau, was ich wollte. Ich musste es nur noch selbst verstehen und dann ins Handeln kommen. 

Erzählt habe ich es vorerst drei, vier Vertrauten. Denn: Ich wollte es mit mir selbst ausmachen. Ich mochte mich in dieser Phase weder blenden lassen, noch mich Kritik oder Zweifel von Aussen aussetzen. Meine Frau und mein Coach und Mentor begleiteten mich, bis ich eine klare Entscheidung treffen konnte. In dieser Zeit beantwortete ich alle relevanten Fragen rund um meine Idee und ich suchte nach Strategien, wie ich es hinkriegen würde. Als ich endlich in der Klarheit war, hat es sich befreiend angefühlt. Ich wusste: «Das ist richtig». Niemand hätte mich seither davon abbringen können. 

Das hiess aber, dass ich ins Handeln kommen musste. Der Mensch ist nicht nur, was er denkt oder sagt, sondern was er macht. Ich musste meine Anstellung kündigen und mich zu 100 Prozent auf meine Selbständigkeit konzentrieren. So bin ich. Ich muss etwas zu 100 Prozent verfolgen. Ich hätte nicht nebenbei ein Business aufbauen können. Das ging nicht. Ich musste zuerst abschliessen.
 

Je länger ich nicht reinen Tisch mit meinem Arbeitgeber machte, desto mehr fühlte es sich an wie fremdgehen.

Erst fiel es mir schwer, mit meinem Plan rausrücken. Aber je länger ich nicht reinen Tisch mit meinem Arbeitgeber machte, desto mehr fühlte es sich an wie fremdgehen. Also suchte ich das offene Gespräch. Dazu muss ich sagen: Ich wohne in einem Dorf, wo sich die Leute kennen und auch reden. Das war mir bewusst und ist ok. Neu für mich war, dass Leute sich plötzlich um mich sorgten. Das ist schön, sie halten etwas von mir und haben mich gern. Aber gewisse erwiderten: «Coaches gibt es wie Sand am Meer.» und «Was ist, wenn ihr eine Familie gründen wollt?» Leute wollen ja tendenziell nicht, dass man sich verändert. Sie wollen einem bei sich halten. Das ist aber unwichtig. Ich weiss, dass es mein Weg ist, dann stimmt es für mich, wenn Leute das anders sehen. Durch die Ausbildung habe ich zudem ein Umfeld gefunden, das mich weitergezogen und bestärkt hat. Ich hatte also beides. Das ist toll.

Danach ging es fix. Ich habe meine Arbeit zur Übergabe bereit gemacht, eine Firma gegründet, eine Website erstellt, Testimonials reingeholt, Fotos aufgenommen, Werbung gemacht, an Texten gefeilt, einen Youtube Kanal eröffnet, eine Kamera gekauft und den Coachingraum eingerichtet.

Seit einem Monat bin ich nun selbständig und es ist gut angelaufen. Es war definitiv der richtige Entscheid. Ich habe Zeit. Ich darf langsam in den Tag starten und diesen abends langsam ausklingen lassen. Das ist eine andere Lebensqualität. Wenn nötig, passe ich mich aber künftig an und justiere. Ich bin ich mir nicht zu schade, meine Hände dreckig zu machen. Es ist mein Weg, ich entscheide.

Sandro in seiner neuen Praxis

 

Mein Tipp an andere, die sich selbständig machen wollen?

Das Ergebnis klar manifestieren und dann loslassen. Oder anders ausgedrückt: Nicht zu fest nachdenken und vorstellen, was sein könnte, wenn. Beim Nachdenken ist man in der Vergangenheit. Mit dem Ausmalen von Horrorszenarien kommt die illusionierte Angst. Bei beidem übernimmt der Verstand und der hat bekanntlich kein Mangel an Argumenten, warum man beim Alten bleiben soll. Besser ist es, aufs Herz zu hören und zurück zum Warum zu finden. Also: Warum will ich das?

Und dann geht’s ans Umsetzen. Der erste Schritt ist es, wichtige Fragen zu beantworten. Gibt es einen Markt? Gibt es eine Nachfrage? Will ich das von morgens bis abends tun, auch wenn ich keinen Franken dafür erhalte? Würde ich es auch machen, wenn ich Millionär wäre?

Danach kann man loslegen mit einem Konzept, einer Struktur und weiteren Fragen. Was bedeutet das finanziell – für mein Privatleben, für meine Zukunft etc. Was braucht es alles, wie gehe ich vor, wen kann ich um Hilfe bitten, was mache ich selbst, was lagere ich aus?

Es ist wichtig, dass man das Ergebnis klar macht und das Ego, das einem die Angstgedanken aufzwingt, ausblendet, um seinem persönlichen Herzensweg zu folgen. 

sandropichler.ch
 

 

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