Mitgliederportrait: Christian Eisenring (Neurochirurg)

06.10.2021 von Leander Lelouvier

Wer sind diese Leute, die freiwillig Geld in einen Topf geben, um anderen eine Weiterentwicklung zu ermöglichen? Wie ticken die? Was machen die? In diesem Blog stellen wir euch unsere Mitglieder vor. 

Teilen

Christian aus Zürich ist Facharzt für Neurochirurgie und seit 2020 Mitglied bei Ting. Wir haben mit ihm darüber gesprochen, wie der Alltag eines Neurochirurgen aussieht, was der Job voraussetzt und wieso ein Grundeinkommen der ganzen Gesellschaft zugutekommen würde.

Als Neurochirurg:in lebt man mit langen, intensiven Arbeitszeiten und hat eine lange, intensive Ausbildung hinter sich. Wenn Christian Eisenring davon erzählt, wie er 2019 nach 6 Jahren Medizinstudium und 7 Jahren Spezialisierung offiziell Facharzt in Neurochirurgie wurde, dann klingt es aber eher so, als hätte er gerade die Gymiprüfung bestanden: «Die Neurochirurgie ist mal eine gute Basis», sagt er. Jetzt müsse er noch weiter Kopf und Hand trainieren bevor er eine eigene Praxis leiten könne. «Ich bin nicht ganz zufrieden mit der Idee, sich einfach niederzulassen und sein Leben zu leben. Für mich kommt jetzt erst die Frage: Was kann ich machen, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben?». 

Wenn Christian vom Operieren erzählt, wundert man sich, wie er denn überhaupt noch die Energie findet, sich mit solchen Fragen zu befassen. «Wenn man bei einer Operation im Hirnstamm nur schon ein ganz bisschen zu weit geht, dann passiert es schnell, dass der Patient danach zum Beispiel unter chronischer Müdigkeit leidet und 16 Stunden am Tag schläft. Wegen einem Kubikmillimeter Material».

Fotograf: Jan Bachschi

Um unter hohem Druck auch die volle Leistung bringen zu können, muss man sich vor jeder OP auch mental vorbereiten. «Eine Operation ist immer eine Herausforderung, du musst immer zuerst einmal den eigenen Puls kontrollieren und schauen, dass du ruhig bleibst». Laut Christian setzt das in erster Linie eine sehr gute Selbstkenntnis voraus. «Man darf sich nerven, aber man muss wissen, wann die Emotionen da sind und wie man mit ihnen umgeht». Fast alle Chirurg:innen haben dazu Methoden oder Rituale, welche ihnen zur Selbstkontrolle verhelfen. Für einige ist das Meditation oder asiatische Kampfsportarten. Für Christian ist es Velofahren, Alpinklettern oder die Headspace-App.

In der Praxis für Wirbelsäulenchirurgie, wo Christian aktuell arbeitet, operiert er immer zusammen mit einem anderen Chirurgen, verschiedenen Fachpersonen und Pfleger:innen. Letztlich stehen bis zu zehn Leute im OP-Saal. «Es ist schön in einer liberalen Gesellschaft zu leben aber in einem Operationssaal ist dann schon gut, wenn eine Person die Verantwortung hat». Schliesslich können jederzeit unerwartete Ereignisse auftreten, die abgefangen werden müssen. «Darauf muss man sich geistig vorbereiten. Und wenn etwas unerwartetes passiert, dann kommt immer die Frage auf, was man anders hätte tun können».

Bei den meisten Eingriffen muss man sich erstmals einen Weg durch Haut, Muskel und Knochen bahnen. Dabei geht es in erste Linie darum, möglichst wenig Schaden anzurichten. Vieles wird dabei zur Routine. Wenn man ein Eingriff schon 100 Mal gemacht hat, ist es von der Komplexität her etwa gleich wie Frühstücken.

Als Kind konnte Christian schon früh die finanzielle Ungleichheit innerhalb der Gesellschaft spüren. «Ich habe es immer extrem unfair gefunden, als ich wegen unseren finanziellen Verhältnissen einen Nachteil hatte». Christian meint, das Aufwachsen in einer grossen Familie hätte ihn positiv geprägt. «Ich bin mit drei Schwestern aufgewachsen. Man musste immer nach rechts und links gucken. Sobald man den eigenen Zug alleine fuhr, ging es nur kurzfristig besser». Das war für ihn eine wichtige Lehre. «Mit Zusammenarbeit erreicht man bessere und schönere Ziele».

Fotograf: Leander Lelouvier

Dadurch war Christian auch schon sehr früh von solidarischen Prinzipien geprägt. «Ich habe mich als Kind schon gefragt, warum es denn überhaupt noch Armut gibt und warum denn niemand was dagegen macht?». Für ihn war aber auch gleich klar, dass er erst in der Lage wäre andere zu unterstützen, wenn er sich selbst versorgen kann. «Erst wenn man dann die eigenen Bedürfnisse abgedeckt hat, kann man anderen Menschen dabei helfen, ihre Bedürfnisse abzudecken».

Dieselben Prinzipien prägen heute Christians Meinung zum Grundeinkommen. «Es gibt genug Ressourcen und genug intelligente Menschen, aber der Flaschenhals ist meistens das Geld. Meine Hoffnung ist, dass ein Grundeinkommen diesen Flaschenhals etwas vergrössern könnte». Laut Christian könne man den Mehrwert eines Grundeinkommens auch an der Geschichte ablesen. «Es gab viele berühmte und talentierte Menschen, wie Nikola Tesla oder van Gogh, die arm gestorben sind. Dann muss man sofort denken: Was hätten die alles noch erreichen können, wenn sie die Mittel gehabt hätten?». Darum argumentiert Christian, man solle alle, vor allem die Schwächsten in der Gesellschaft, soweit unterstützen, dass sie selbstständig agieren können. «Das erreicht man mit einem bedingungslosen Grundeinkommen am besten».

Wenn man die Benachteiligten, die Armen und Randständigen ins Zentrum der Gesellschaft nimmt und die Grundbedürfnisse von allen gedeckt sind, dann ist das eine Förderung für die gesamte Gesellschaft. Vielmehr als wenn jeder versucht irgendwie das Beste für sich selbst rauszuholen.

Ting hat Christian Ende 2020 entdeckt, und sofort unterstützen wollen. «Das Projekt hat bei mir genau den Nerv getroffen». Das Tolle bei Ting sei, dass man Menschen eine Zeit lang ermöglicht, sich keinerlei Gedanken um Geld machen zu müssen. «Bei einem 100% Job ist man bisweilen 100% ausgelastet, und hat weder Zeit noch Geld um den gewünschten Einfluss auf dieser Welt zu hinterlassen – es langt kaum, um sich mal anständig über das Abstimmungsmaterial zu informieren». 

Was genau mit dem Geld passiert oder an wen es genau kommt, kümmert ihn nicht besonders. «Man kann nie sicher sein, dass diejenigen Leute das Geld annehmen, die es auch wirklich bedürfen – aber wenn nur schon wenige davon profitieren, ist das ein Fortschritt für alle – allein schon dieser Gedanke befreit». Laut Christian müsse man auch einfach dem Guten im Menschen vertrauen können– «und letztlich ist es dann doch zu wenig Geld, um einen grossen Unsinn damit anzustellen». Geld selber in Anspruch zu nehmen, ist für Christian vorderhand nicht geplant. «Aber es ist auch gut zu wissen, dass man es könnte». 

Das ist die Schönheit an diesem Experiment. Wenn für diese Menschen der Knappheitsgedanke einmal weg ist, kann man zuschauen wie sie aufblühen.

Was würde geschehen, wenn heute schon alle Zugang zu einem bedingungslosen Grundeinkommen hätten? «Ich glaub das hätte ein positiven Feedback Effekt. Wenn Armut beseitigt wäre, dann würde die Gesundheit der Menschen steigen, damit auch hoffentlich die Gesundheit vom Planeten. Die allgemeine Bildung würde steigen und mehr Menschen würden ihren Interessen nachgehen». Für Christian ist klar, dass irgendwann ein bedingungsloses Grundeinkommen kommt – «oder zumindest macht mich diese Illusion glücklich». Christian sagt, dass die Schweiz mit einem Projekt wie Ting, eine Vorreiterrolle einnehmen könnte und eventuell auch erreichen, dass es schon ein paar Jahre früher kommt. Und wenn das jemand sagt, der regelmässig Gehirne operiert, dann will man es auch fast glauben.

Leander Lelouvier

Leander interessiert sich dafür, wie Menschen bei Krisen und grossen Veränderungen ihre Handlungsfähigkeit erhalten und erweitern können. Um angesichts überwältigenden Wandels nicht lethargisch zu werden, benötigen wir nicht nur ein besseres Weltverständnis, sondern auch ein besseres Verständnis unserer Selbst und unserer Wünsche. Leander hat Internationale Beziehungen an der Universität Groningen studiert und arbeitet seither als freier Journalist. Hier schreibt er über die Mitglieder von Ting, was sie dazu bewegt Ting zu unterstützen und was ihnen das Projekt bereits ermöglicht hat.

Teilen