Träumst du noch oder lebst du schon?

21.08.2020 von Anne-Sophie Keller

Warum es nie zu spät ist, sich an seine Kindheitsträume zu erinnern und sein Leben wieder lebenswert zu machen.

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«Von neun bis fünf arbeiten ist doch keine Art, ein Leben zu führen! Kaum über die Runden kommen und überall leeres Gerede; deine Gedanken anderen zur Verfügung zu stellen, ohne dafür Anerkennung zu kriegen – da wird man doch verrückt!» Diese Zeilen sang die Country-Ikone Dolly Parton vor sage und schreibe 40 Jahren in ihrem Song «9 To 5». 2020 sind sie so aktuell wie nie.

Ganz ehrlich: Ich kenne fast keinen Menschen, der montags gerne ins Büro geht. Und das ist eigentlich ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Unsere Berufe sind keine Berufungen mehr, sondern in vielen Fällen die Jobs, die unsere Miete zahlen. Haben wir das Träumen verlernt? Machen wir wirklich das, was uns glücklich macht? Was wollen wir denn eigentlich?

Die letzte Frage klingt einfach, ist aber komplex. Ich weiss ganz oft nicht, was ich will. Ob vor dem Kleiderschrank, auf der Speisekarte oder generell im Leben. Inmitten von zahlreichen Optionen verliere ich den Kopf. Anything goes – das ist ja grundsätzlich etwas Schönes. Aber es bedeutet eben auch die totale Verwirrung. Dazu kommt die Angst, sich mit einer falschen Entscheidung etwas zu verbauen. Vielleicht kommt ja noch etwas Besseres? Wir tendieren dazu, die Dinge so lange zu überdenken, bis wir unserem Bauchgefühl gar nicht mehr vertrauen.

Machen wir wirklich das, was uns glücklich macht?

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Ein Workshop mit dir selbst

Worin bin ich eigentlich gut? Wo liegt meine Schaffensfreude? Was mache ich richtig gerne? Diese Fragen schickten mich auf eine kleine Reise: Vor einem Jahr fiel mir das Buch «The Artist’s Way» von Julia Cameron in die Hände. Das Credo der Autorin: Kreativität ist überall – unsere Aufgabe ist es lediglich, uns wieder dafür empfänglich zu machen, uns sozusagen «kreativ zu entblocken». Und zwar mit zwölf Kapiteln, die man in zwölf Wochen durcharbeiten muss.

Cameron empfiehlt als erste Massnahme das tägliche Schreiben von sogenannten Morgenseiten. Auf drei Seiten soll man runterschreiben, was einen grad beschäftigt – von grossen Dingen wie dem Kinderwunsch bis zu Banalem wie der Einkaufsliste. Das macht den Kopf frei für den Tag. Einmal wöchentlich soll man sich selbst daten und alleine etwas unternehmen, das einen inspiriert. Ein Spaziergang im Park, ein Konzert, eine Tanzstunde, ein Workshop über ätherische Öle, irgendwas.

Dazu kommen tägliche, kleine Aufgaben. In einem Kapitel, das ich als das wichtigste erachte, geht es darum, sich wieder mit seinem inneren Kind zu verknüpfen. Was würde mein fünfjähriges Ich von der Person halten, die ich geworden bin? Was habe ich  als Kind gerne getan? In einer Aufgabe soll ich fünf Dinge essen, die ich als Kind geliebt habe. Ich besorgte mir eine Riesenpackung Froot Loops, die knallbunten Zuckerbomben, die ich früher zum Zmorge ass.

Ein anderes Kapitel behandelt derweil das Umfeld. Nähren mich die Menschen um mich herum wirklich? Kann ich mit ihnen über meine Träume reden oder blockieren sie mich? Sind die verschiedenen Bereiche meines Lebens ausgeglichen? Und sollte ich vielleicht mal was in meiner Wohnung verändern? Endlich diese Ecke aufräumen und mir dort vielleicht einen schönen Arbeitsplatz für mein Hobby einrichten?

Nach drei Monaten hatte sich mein Leben im Kleinen ganz gross verändert. Ich habe mich beruflich auf eine Nische von Geschichten konzentriert, die ich wirklich gut kann. Ich habe meine Wohnung umdekoriert, einen Malkurs gemacht und trage buntere Kleider, in denen ich mich mehr wie ich selbst fühle. Früher lief ich so oft in Pink und Geld herum – keine Ahnung, warum ich damit aufgehört habe. 

Bei einer Betrachtung meiner unterschiedlichen Lebensbereichen habe ich realisiert, dass die Spiritualität bei mir auf der Strecke blieb. Heute mache ich wieder öfters Yoga; bereits eine Viertelstunde am Morgen macht meinen Tag jeweils so viel besser. Ich habe mich von gewissen Freunden distanziert, weil ich erkannte, dass sie mich nur blockieren. Ich ging alleine auf den Jakobsweg und habe an einem Buch mitgearbeitet, das dieses Jahr erscheint. Diese Dinge sind mir ganz oft einfach zugefallen. Weil ich empfänglich war und nach Zeichen gesucht habe. 

Ich besorgte mir eine Riesenpackung Froot Loops.

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Zurück in die Zukunft

Ein weiterer Weg, wieder zu sich und seinen Herzenswünschen zu finden, sind Kindheitshobbys. Was habe ich früher wirklich gerne gemacht? Was hat es mir gegeben? Was fehlt mir daran? Warum habe ich aufgehört? Früher gingen wir reiten, fussballspielen, ins Kunstturnen oder in die Klavierstunde. Heute gammeln wir so oft nach der Arbeit einfach vor der Glotze rum, bis wir todmüde ins Bett fallen.

Ich habe neulich meine FreundInnen gefragt, was aus ihren Hobbys von früher geworden ist. Erzählt wurde von Sonntagen auf dem Quartier-Rasen und verbeulten Knien. Von Büchern, die mit 16 geschrieben und nie fertiggestellt wurden. Angefangenen und beendeten Karrieren als Kunstturnerin. Spaziergängen durch die Natur. Von Räubern und Polizisten.

Ein paar wenige Glückliche haben ihr Hobby zum Beruf gemacht. Zum Beispiel Sarah, die als Kind Kristalle züchtete und heute als Chemielaborantin arbeitet. Henning, der als Bub die Welt mit dem Rad entdeckte und heute gelernter Zweiradmechaniker ist. Thomas, der Musiker wurde.

Eine Freundin erzählte: «Bräteln, am Samstag draussen mit FreundInnen im Wald und auf Wiesen rumtoben, Zelten und Märchen anhören. Ja manchmal vermiss ich das, dann bring ich aber meine FreundInnen dazu mit mir an den See grillieren zu gehen oder mach einen Ausflug mit meinem Schatz.»

Und genau das sollten wir wieder machen. Die verstaubte Sportausrüstung aus dem Keller holen. Mit unseren besten Freundinnen durch die Wälder ziehen wie früher in der Pfadi. Das Instrument auf dem Estrich auspacken. Und wieder etwas leichter werden: Das Schönste an unseren Hobbies war ja unsere kindliche Unbeschwertheit, mit der wir an sie herangingen. Spass und Entwicklung standen im Vordergrund – nicht Ehrgeiz und Selbstoptimierung.

Heute gammeln wir nach der Arbeit vor der Glotze rum, bis wir ins Bett fallen.

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Anne-Sophie Keller

Anne-Sophie Keller (30) ist in Thun aufgewachsen und arbeitet seit zehn Jahren in Zürich als Autorin und Journalistin. Ob Ayahuasca-Retreat, Leben im Prinzessinnenschloss oder BDSM-Party: Ausprobiert hat sie schon fast alles, was den Horizont erweitert und die Seele nährt. Einen vernünftigen Lebenswandel erachtete sie als höchst unvernünftig.

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