Dumme Fragen, neue Kräfte und mutige Experimente.

17.12.2020 von Ondine Riesen

Ein Essay darüber, warum wir den geistigen Karsumpel ablegen und neue Wege gehen sollten. 

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Die Scham der Novizen
Wer in ein neues Gebiet eingeführt wird, scheut üblicherweise Kritik und vermeintlich dumme Fragen. Man beobachtet, kopiert, zeigt sich dankbar. Der neue Platz innerhalb der sozialen Hackordnung zu verspielen, sich als Outsider oder unwissend zu outen, wäre schädlich. Zumindest peinlich. Dazu braucht es mehr Mut und Rückgrat, als uns zur Verfügung steht. Wir leben in der Schweiz.

Das Ausnahmejahr 2020 geht dem Ende zu, und überstanden ist gar nichts. Die Kulturbranche wird vor unseren Augen zu Grabe getragen, die Care-Arbeiter*innen in die Erschöpfung getrieben, den Kleinstunternehmer*innen und Selbständigen wird Glück gewünscht.
Wie aber löst eine Gesellschaft grosse Krisen und wie überhaupt wollen wir künftig zusammenleben?

Wie überhaupt wollen wir künftig zusammenleben?

1. Falsche Prämissen

Nicht funktioniert hat der ungezügelte Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Auch nicht funktioniert, hat die abgeschwächte Variante, des Neoliberalismus, der seit dem letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, unser freies Denken bestimmt. Das neoliberale Versprechen lautete: Wenn wir die Interessen des Kapitals vor die Interessen der Arbeitenden stellen; wenn wir privatisieren; wenn wir alle zu Miniunternehmer*innen werden und keine Institution mehr zwischen mir und dem nackten Überleben steht, dann werden wir glücklich und reich. Ich glaube, es lässt sich inzwischen unaufgeregt und in grosser Einigkeit sagen: Das hat nicht geklappt. Wir haben uns austricksen lassen. Vom Versprechen selbst und der Furcht, das Konstrukt infrage zu stellen.

Die neoliberale Auffassung, dass jedes Lebewesen egoistisch agiert und seine Ziele mit allen Mitteln durchsetzt, stimmt nicht. Man hätte nur die eine stillende Mutter im Wochenbett fragen können. Dieses Modell des Homo Oeconomicus ist problematisch. Es baut auf falschen Prämissen. Aber welche Studierende wagen im 1. Semester schon kritische Fragen zu stellen?: Ich nicht. Ich war neu und wollte nicht nerven. 

Poppers Vorschlag hingegen, Theorien zu erfinden und sie anschliessend zu falsifizieren, schien mir interessant und plausibel. Das geht so: 
«Alle Schwäne sind weiss.» 
«Halt. Da ist einer, der ist schwarz!» 
«Oha, da lagen wir falsch und darum: gehen. wir. zurück. an. den. Schreibtisch. und. denken. nochmals. über. die. Farbe. von. Schwänen. nach!»

Das ist aber innerhalb der Wirtschaftswissenschaften nicht passiert. Es gab zwar alternative Herangehensweisen. In der Realwirtschaft kamen diese kritischen Strömungen jedoch kaum zum Tragen. Das ideologische Fundament blieb bestehen. Mit verheerenden Folgen.

Die neoliberale Interpretation des Homo Oeconomicus’ bedeutete: der Fleissige wird reich und sorgt für Vollbeschäftigung, während der Faule arm bleibt und sich auf Kosten des Fleissigen im Sozialstaat ausruht. Das ist natürlich Polemik meinerseits, trotzdem: Es ist die Botschaft, die von Bekannten, Parteien und Medien in unseren nicht akademischen Haushalt und so in meine Sozialisation geflossen ist. Ich war damit nicht alleine. Und sehe ich mich heute um, ist das noch immer anerkannte Wahrheit. Wer fleissig ist, wird belohnt. Wer nicht belohnt wurde, war nicht fleissig genug. Damit lässt sich spielen. Zum Beispiel: Wurde jemand belohnt, muss er fleissig gewesen sein. Oder: Wer reich ist, hat es verdient. Wer arm ist, auch. Heute wissen wir, dass diese Verkürzung falsch und die dazugehörige Leitkultur für Menschen schädlich ist. 

Die entscheidende Frage lautet: wie werden wir den geistigen Liberalismus-Karsumpel wieder los? 
Mein Vorschlag: Mit dummen Fragen, neuen Kräften und Experimenten.
 

Das ideologische Fundament blieb bestehen. Mit verheerenden Folgen.

2. Individuelle Schuld vs. kollektive Schuld

Der nationale und globale Krisenstab hat in der aktuellen Krise für viele versagt. Ich behaupte, weil er musste. Je Komplexer eine Situation ist, desto mehr Sichtweisen darauf sind nötig. Dafür braucht es Diversität, Austausch, Vernetzung, Partizipation. Diese sind heute nicht in dem Masse gegeben, als dass sie die aktuelle und auch künftigen Krisen für eine Mehrheit bewältigen könnten. 

Von der aktuellen Krise profitieren die Üblichen. Darf man die, die von Krisen profitieren, auch für selbige verantwortlich machen? Ja, vielleicht. Wären unsere Systeme auf anderen demografischen Profilen aufgebaut, wären die Profite anders verteilt. Es gibt darum weniger Grund, Eier gegen das verstaubte patriarchale Establishment zu werfen, als dafür zu sorgen, dass mehr und andere Menschen echte Verantwortung übernehmen. Am besten solche, die es können. Gerne Frauen.

Bin ich nicht selbst längst der Anklage überfällig, obwohl ich das lieber nicht wahrhaben möchte? Ist doch mein Einfluss auf das Weltgeschehen so gering, dass ich die Kausalität meines Verhaltens, und die dadurch wachsende Verantwortung, aberkenne. Meine Ignoranz sagt mir: Mein Amazon-Account hat nichts mit dem Ladensterben der Innenstadt zu tun. Mein vergessenes Stimmcouvert nichts mit Massentierhaltung, Handelsverträgen, Ladenöffnungszeiten oder dem Klima. Mein Smartphone nichts mit Menschenrechtsverletzungen. Meine Aktien nichts mit Ölkatastrophen, Pipelines, Migration, Hurrikane, Hungersnöten. «Ne, da seh ich keinen Zusammenhang.» Also warte ich auf die Wirtschaft, auf die Politik, auf Verbände, Parteien, NGOs, die Wissenschaft, Kunst und sogar auf die Kirche. Die sollen etwas tun, dann ziehe ich mit.

Und hier liegt die Krux: Diese Institutionen bestehen aus Individuen. Welche genau wie ich, freiwillig oder unfreiwillig, neoliberale Ideen als Wahrheiten anerkennen und genau wie ich, nicht wagen, dumme Fragen zu stellen. Das macht die Mühle träge. Wie kann denn erwartet werden, der Output dieser Institutionen möge mutig, schnell, kreativ oder innovativ sein, wenn die immer gleichen Menschen die immergleichen Prozesse verfolgen?

Wir müssen dafür sorgen, dass mehr und andere Menschen echte Verantwortung übernehmen. Am besten solche, die es können. Gerne Frauen.

3. Zeit für die Revision

In einer Gesellschaft der Hyper-Individualisierung wird es zunehmend schwieriger, sich als Teil einer Gemeinschaft zu sehen. Umso bedeutender ist die gegenwärtige Renaissance der kollektiven Protestkultur. Besonders junge Menschen, und solche mit weniger Privilegien und Macht als jene, die über die Spielregeln bestimmen, geben ihrer Unzufriedenheit eine Stimme. Ob Klimajugend, Frauenstreikler*innen, Kulturschaffende (und meinetwegen auch Coronazweifler*innen). Wir tun gut daran, Unmut anzuerkennen und Prozesse zu finden, mit denen Probleme innerhalb dieser Gesellschaft mit wirkungsvolleren Mitteln als Pflästerchen und kleinen Eingeständnissen angegangen werden. Denn mit der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung werden sehr viel mehr Menschen, mit den von uns künstlich aufrechterhaltenen Strukturen, Probleme haben. 

Tausende Menschen, die im Büro, an der Kasse, auf der Strasse, in der Landwirtschaft, in Fabriken, Banken und Versicherungen von Maschinen ersetzt wurden, werden fragen: «Wer bezahlt meine Miete und Krankenkasse?» Parlamentarier*innen werden fragen, «wer bezahlt die weggefallenen Steuern?» CEOs: «Wer darf noch arbeiten?» Alte: «Wer bezahlt die AHV?» Aktivist*innen: «Warum seid ihr so verdammt langsam?» Die letzten Neoliberalen: «Wie erhalten wir die Vollbeschäftigung?» Und hinter all diesen Problemen steht die eine, im Ausmass gar nicht zu überschätzende, grosse Frage: «Wie lauten die neuen Spielregeln?»

Welche Regeln braucht es, damit wir künftig, ohne für alle zugängliche Lohnarbeit, in Frieden zusammenleben können – unter den erschwerten Umständen, eines angeschlagenen Ökosystems? Wer kriegt das Geld, das Maschinen erwirtschaften? Wer darf sich umschulen lassen und wer kommt dafür auf? Werden Lohnarbeitende ihr Geld mit denen teilen müssen, die einer Tätigkeit ohne Lohn nachgehen? Wie werden die Arbeitslosenkassen finanziert, wenn die Einnahmen kleiner sind als die Ausgaben? Wie soll der Sozialstaat, dafür sorgen, dass alle Bürger*innen ein würdiges Leben führen können? Ich habe noch viele weitere Fragen bezüglich unserer Zukunft. Die wenigen hier reichen aber aus, um das Ausmass der gesellschaftlichen und finanziellen Umwälzung zu veranschaulichen, auf die wir nicht vorbereitet sind, auf die unser System keine Antworten bereit hält. Wenn wir nicht sofort anfangen mutig, schnell, kreativ und innovativ neue Regeln zu definieren, was geschieht dann? 

CEOs: «Wer darf noch arbeiten?»

Kapitel 4: Neuer Gesellschaftsvertrag

Wir erleben die paradoxe Gleichzeitigkeit, exorbitanten Reichtums auf der einen und wachsende Existenzängste auf der anderen Seite. Die soziale Schere weitet sich. Wir leben in Zeiten von Stress, psychischen Erkrankungen, Isolation, staatlicher Verschuldung, politischem Extremismus, Verschwörungsglauben, Naturkatastrophen, Ressourcenknappheit, zerstörten Ökosystemen, Pandemien, Flüchtlingsströmen und mehr. Das geht nicht einfach weg. Das akzentuiert sich, und die Unsicherheit nimmt zu. Je weniger wir über eine Situation wissen, desto wichtiger sind Orientierung, Transparenz, Vertrauen und Kommunikation. Wir brauchen darum Leute, die das können. Wie gesagt: gerne Frauen. Und wenn Ursache und Wirkung nicht klar sind, weil die Fragen keine brauchbaren Antworten hervorbringen, dann brauchen wir Experimente. 

In der Krise zu experimentieren, ist sinnvoll. Denn das Althergebrachte taugt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da. Mit Experimenten und Prototypen tasten wir uns an einen neuen, möglichen Gesellschaftsvertrag heran. Die Demokratisierung der Unternehmen und das an den Tisch bringen von nicht weissen, nicht alten, nicht reichen Männern, werden zurzeit getestet. Die Resultate sind überzeugend. Die Diskussion über den Wert der Arbeit vs. Familie bringt neue Möglichkeiten der Lohngestaltung mit sich. Getestet wird etwa ob Bedarfslohn eine gerechtere Verteilung der Saläre mit sich bringt oder ein Vaterschaftsurlaub die Gleichstellung der Geschlechter vereinfacht. Weiter sollten wir testen, wie wir unbezahlte Arbeit validieren oder wie wir Sozialleistungen von Lohnarbeit entkoppeln. 

Agilität, Coworkingspaces, Homeoffice, Onlinemeetings gingen alle aus Experimenten hervor. Wir sind ständig dabei, neue Möglichkeiten zu testen. Im Kleinen versuchen wir es mit Secondhand statt Fast Fashion. Burger auf pflanzlicher Basis statt Fischstäbchen. Wanderferien statt Surfcamp in Thailand. Wir sind im Trial-and-Error-Mode und lernen viel dabei. Das lässt sich auf eine kommunale, nationale und globale Ebene skalieren. Die Fähigkeiten dazu besitzen wir.

Die Mikrotransaktionssteuer zum Beispiel, zur Finanzierung staatlicher Ausgaben, ist innovativ, einfach und logisch. Sie würde genügend Geld in die Staatskassen bringen, um nötige Investitionen für eine nachhaltige Gesellschaft zu tätigen. Zum Beispiel die finanzielle Existenzsicherung für all jene, die ihren Job an eine Maschine abtreten müssen. Warum sollten wir sowas nicht unbedingt testen wollen? Oder eine Variation des Grundeinkommens? Forschungsinstitute, Testpersonen und Geld für ein aussagekräftiges Experiment sind da. Was ausser einer längst hinfälligen Grundhaltung steht dem noch entgegen? 

Das jahrzehntelange Experiment des Neoliberalismus war interessant, lehrreich und verheerend. Die Zeit ist gekommen, dieses Regelwerk zu verabschieden und neue zukunftsfähige Wege zu gehen. Im schlimmsten Fall funktioniert es nicht. Aber wissen tun wir das erst, nachdem wir es versucht haben.

In der Krise zu experimentieren, ist sinnvoll. Denn das Althergebrachte taugt nicht mehr und das Neue ist noch nicht da.

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Die aktuelle Gesellschaftslage verlangt imperativ danach, dass sich konstruktive offene Geister zusammentun. Der Verein Dualist schafft dafür ein Gefäss. Dieser Text ist von Ondine Riesen als Privatperson für die Edition Dualist geschrieben worden. Die Edition ist ein doppelseitiges Positionspapier mit jeweils einem Bild- und einem Textbeitrag über das Zusammenspiel von Kultur und Wirtschaft. 

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