Die Geschichte von Evelyn. Die Geschichte einer #tingting, die dem eigenen Modelabel kündigte, mit Community-Geld einen nachhaltigeren Ansatz realisierte und ganz nebenbei eine grosse Liebe wiederfand. Aber eins nach dem anderen…
Kaum die ersten Sätze gewechselt und es wird glasklar: Evelyn Bozzolini hat einen energiegeladenen Vollblut-Unternehmerinnen-Vibe. Den hatte sie wohl schon immer. Nur halt eben in einer Industrie, die den Stopp-Knopf nie fand: Die Modebranche. Ihre Leidenschaft für das Nähen und Designs war nie ganz vereinbar mit dem Fast-Fashion-Wahn. Trotzdem baute sie, gemeinsam mit einer Kollegin, fünfzehn Jahre lang ein gut funktionierendes Label für Damen-Unterwäsche auf. Ein Knochenjob: Die Geschwindigkeit in der Mode kennt keine Grenzen, die monetären Mittel werden umgehend reinvestiert, die zeitlichen Ressourcen fliessen vollumfänglich in die Arbeit und die Energie schwindet. Die ursprüngliche Liebe für das Metier schwindet stillschweigend mit. Sie beschreibt es mir heute plakativ so, dass die Maschinen für eine serielle Produktion in China hätten anlaufen und ihre Entwürfe - die aus dem Herzen stammen - in den Endsaison-Sales gelandet wären. Das alles raubt den beiden Gründerinnen zunehmend die Inspiration.
Der europäische Bekleidungsmarkt macht 2022 voraussichtlich rund CHF 352 Milliarden Umsatz, was einem ungefähren Absatz von 34,78 Kleidungsstücken pro Kopf und Jahr entspricht (Quelle: statista.com)
Es entstehen rund 92 Millionen Tonnen Textilabfälle jährlich (Quelle: nytimes.com). Das sind über 36 kg pro Person, in der Schweiz sind es durchschnittlich 6,3 kg (Quelle: fashionrevolution.ch).
Die Mode- und Textilindustrie, wie sie mit den heutigen Konsumentenansprüchen und dem Tempo heute funktioniert, ist verantwortlich für 2-8% der Treibhausgas-Emissionen weltweit (Quelle: unfashionalliance.org)
Ausstieg in die Schockstarre
Kombiniert mit dem Familienzuwachs wurde es immer klarer: Evelyn wollte und musste raus. Absprung. Beinahe, so ihre Einschätzung jetzt, hätte sie ihre Designs und ihre Nähmaschine für immer in die Ecke gestellt. So prägend war die Erfahrung im Strudel der unnachgiebigen Modeindustrie.
Ich empfinde die Logiken der Fast-Fashion-Industrie als abwertend gegenüber den eigenen Designs und dem Handwerk der Mode. Beinahe wäre mir die Liebe zu meinem Beruf komplett flöten gegangen.
Projektfinanzierung ganz anders
Evelyn lebte sich erst einmal als Mama im neuen Familiengefüge ein, leckte ihre Wunden und begann allmählich wieder von einem eigenen Projekt zu träumen. So rasch die grobe Idee im Kopf skizziert war, so rasch kam auch die Frage nach einer Startfinanzierung auf: Das konstante Reinvestment in das erste Label machte eine Eigenfinanzierung schwierig. Kredit mit entsprechend hohen Zinsen und einem Risiko, welches die ganze Familie mitträgt? Crowdfunding? Preisgelder abwarten? Fördermittel für Innovation? Evelyn kannte die Formen schon und bewegt(e) sich mit ihren Zukunftsbildern zwischen Kunst und Kommerz. Keine einfache Grundlage für die üblichen Finanzierungsformen. Der Herzenswunsch nach etappenweiser Skalierbarkeit, die dem Rhythmus der Familie angepasst werden kann - ihrem eigenen Rhythmus - macht es noch harziger. Dank einer Freundin stösst sie auf Ting. Jetzt galt es noch die Skepsis des Umfeldes abzuschütteln, welches teils die Seriosität der Umverteilung von Geld durch eine fremde Community anzweifelte.
- Fremde Menschen geben dir sechs Monate lang Geld, ohne zu wissen, was du damit genau anstellst?
- Also, wie genau? Du kriegst von denen Lohn fürs nichts machen?
Nichts machen à la Evelyn
Evelyn wird trotzdem Ting Mitglied und startet nach dem breit abgestützten Eingabeprozess in ihre Weiterentwicklung. Und ihre Realität der sechsmonatigen Zeit hätte nicht weiter weg vom «nichts machen» sein können, weshalb ich bei ihren Schilderungen der Reaktionen schmunzeln musste. Parallel fällt mir aber auch einmal mehr auf, wie tragisch es doch ist, dass nichts (oder wenig) machen noch immer einen dermassen schlechten Ruf hat.
Die Leistung als einziger Wert-Indikator ist wie ein Kaugummi unter dem Bussitz: Jede:r findet ihn grusig, aber er bleibt unbemerkt kleben.
Aber bleiben wir am Ball…
Ting - kurz erklärt
Wir bauen als unkomplizierte und ehrliche Community mit monatlichen Beiträgen ein gemeinsames Vermögen auf, das allen Mitgliedern transparent und in Form eines zeitlich begrenzten Einkommens zur Verfügung steht. Wir gestalten so die Zukunft aktiv mit, indem wir Raum für Innovationen, Neuorientierung sowie produktive Pausen schaffen. #tingting
Lyn Studio entsteht
Zarte und handverlesene Stoffe, die sich an den Körper schmiegen, nachdem man sich selbst in der Kunst des Nähens ausprobiert hat. Und so auch die Wertigkeit und den Aufwand hinter einem schönen Stück Lingerie eigenhändig erlebt hat: Das ist unter anderem Lyn Studio, ein Do-it-yourself-Label für Unterwäsche. Aber daneben ist es eben noch viel mehr: Es ist Evelyns Chance, nochmals durchzustarten. Es ist eine Möglichkeit, ihren angelernten Beruf in ihrem Tempo und mit möglichst viel Familienvereinbarkeit auszuleben. Mit dem Ting-Geld, welches die zweifache Gründerin und Mutter während sechs Monaten bezogen hat, konnte sie das neue Businessmodell durchdenken und sofort konkret angehen. Sie hat ein Studio eingerichtet, hat Material beschafft, hat Designs und Schnittmuster ausgearbeitet, hat ihren neuen Webauftritt konzipiert und steht kurz vor dem Launch. Ohne Leistungsdruck hat sie die Luft des beruflichen Neubeginns geschnuppert und nebenbei die Freude an der Mode zurückgewonnen. Alles zu einem Sales-Preis von CHF 2500 im Monat, finanziert durch vertrauensvolle (mehrheitlich fremde) Mitmenschen.
Der Modezirkus hat eine Protagonistin zurück, diesmal aber selbstbestimmt und mit möglichst nachhaltigen Spielregeln (unter anderem eine lokale Produktion).
Ich würde sagen: Geld kann wichtig sein, aber darf auch ungeniert Zeit kosten. Demnach ist Zeit wichtiger.
Rückblickend
Ja, es ist wohl eindeutig eine schräge und ungewohnte Erfahrung, jeden Monat ein Einkommen der neuen Art zu erhalten. Daran geknüpft sind keine Leistungsziele oder Rapportpflichten. Was man damit macht, ist eine Sache des eigenen Antriebs. Evelyn ist ehrlich und schildert auch einen anfänglichen Druck: «Wenn Fremde in mich investieren, möchte ich etwas wirklich wirklich Wertiges kreieren». Um kurz darauf zu merken, dass sie die Chance ganz unabhängig vom Investment anderer ergreifen wollte. Zurück bleibt nach der Weiterentwicklung aus ihrer Sicht eine enorme Dankbarkeit und die Sicherheit, dass sie bei Ting dabei bleibt. Denn es gibt fremde Menschen, die eines Tages dank ihr in eine solche Weiterentwicklung starten können. Geben und nehmen; no strings attached.
Fragen an Evelyn
Was würdest du den #tingtings - die in eine Weiterentwicklung starten - raten?
Falls ihr den auch ein wenig spürt, löst den Druck «ich kriege Geld von Fremden» möglichst schnell. Seht es als Motivation und macht es für euch. Und ganz praktisch: Ich habe die sechs Monate mit Zeit- und Budgetplänen organisiert. So konnte ich die Etappen optimal angehen.
Monatsraten à la Ting oder Unterstützung auf einen Schlag?
Zuerst dachte ich ernsthaft, dass «alles uf ein chlapf» wohl einfacher wäre. Aber rückblickend würde ich nichts an dieser Zeit ändern wollen. Die Staffelung hat mich vor Fehlentscheiden bewahrt. Das iterative Vorgehen mit einzelnen Schritten auf einer Zeitachse hatte den Vorteil, dass ich aufbauend arbeiten konnte und auch während den Schritten noch Änderungen vornehmen konnte.
Was würdest du rückblickend in deiner Weiterentwicklung anders machen?
Mehr Kinderbetreuung organisieren (lacht). Nein, nichts wirklich. Höchstens vielleicht den Mut schneller fassen und die Ting-Community punktuell um Schwarmintelligenz bitten. Aber dies ist ja als Mitglied auch weiterhin gut möglich.
Wenn du Ting mit nur einem Wort beschreiben könntest, welches wäre das?
Perspektive
Vertrauen und Ting: Wo liegt für dich der Zusammenhang?
Das Vertrauen spielt eine zentrale Rolle bei Ting - es ist der Grundsatz der ganzen Idee. Man muss und darf darauf vertrauen, dass auch andere Menschen genau wissen, was das Richtige für sie und andere ist. Sie brauchen einfach die Chance.
Zeit und Geld: Was ist für dich wichtiger und weshalb?
Schwierige Frage. Zeit erscheint mir wichtig für die Entwicklung. Um das Richtige zu finden, benötigt man oftmals Zeit. Und klar, Geld ist auch nicht unwichtig. Ich würde sagen: Geld kann wichtig sein, aber darf auch ungeniert Zeit kosten. Demnach ist Zeit wichtiger.
Danke Evelyn. Schön bist du #tingting 💚
Bilder © Lyn Studio