Würfel als Symbol für den Zufall im Kontext von Klassismus

Von Chancen, Gerechtigkeit, Diskriminierung und Ting

26.10.2023 von Marah Rikli

Wie nutzt man eine Chance? Wie kriegt man eine Chance? Marah hat sich dem #tingthema der Chancengerechtigkeit gewidmet. Und dieses mit einer ordentlichen Prise eigener Erfahrung angereichert.

Teilen

 «Nutze deine Chance» sagte mir mein Vater als ich in der 6. Primarklasse war,  «mach die Prüfung ans Gymnasium, ich hatte diese Möglichkeit damals nicht.». Mein Vater wollte, dass ich es besser mache als er. Er und meine Mutter konnten aus verschiedenen Gründen nie eine Lehre abschliessen. Beide haben traumatische Kindheiten erlebt, eine toxische Jugend und enge Strukturen in der Schweiz der 1970er Jahre. Mit knapp 20 Jahren wurden sie das erste Mal Eltern. Die sich nach kurzer Zeit wieder scheiden liessen. Danach lebte ich mit meiner Mutter mit noch weniger Geld als eh schon – so wenig Geld, dass ich ihr regelmässig in der letzten Woche vor dem Zahltag mein Erspartes gab, damit wir etwas zu essen kaufen konnten. 

Die Chance nutzen 

«Nutze deine Chance» – erst heute verstehe ich, was er damals meinte. Ich sollte meine Möglichkeiten, meine Ressourcen, meine Intelligenz und Resilienz nutzen. Doch so einfach war das nicht. Den Vorbereitungskurs für die Prüfung ans Gymnasium konnten wir uns nicht leisten. Und wenn die Freundinnen Zeit hatten zum Lernen, ging ich meinen Nebenjobs nach und hütete die Nachbarskinder, damit ich etwas Geld hatte. Ich bestand die Aufnahmeprüfung nicht. Drei Jahre später versuchte ich es erneut, diesmal klappte es knapp. Trotzdem suchte ich mir eine Lehrstelle. Die finanzielle Unabhängigkeit von meinen Eltern, mein eigenes Geld zu verdienen und nicht mehr auf jeden Rappen schauen zu müssen, war in diesem Moment zentraler als ein jahrelanges Studium – unbewusst fühlte ich mich zudem wohler in Kreisen von Menschen mit wenig Geld, aus  «einfachen Verhältnissen» und ähnlichen Herkunftsfamilien. Bis heute habe ich weder eine Matura gemacht noch studiert. 

Was ich als Kind und Jugendliche spürte, war Klassismus, die strukturelle Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder der Klassenzugehörigkeit. Die Diskriminierungsform wurde lange Zeit kaum beachtet und erhält immer mehr Beachtung, auch in der Bildung.

Bild von Marah am Ting Geschichten Event in Zürich
Marah ist Journalistin und Moderatorin

Strukturelle Diskriminierung 

Was ich als Kind und Jugendliche spürte, war Klassismus, die strukturelle Diskriminierung aufgrund der Klassenherkunft oder der Klassenzugehörigkeit. Die Diskriminierungsform wurde lange Zeit kaum beachtet und erhält immer mehr Beachtung, auch in der Bildung. Denn Bildung wird in der Schweiz, wie auch Vermögen, mehrheitlich vererbt: «Gymnasium und Uni sind noch immer ein Privileg für jene Schichten, die schon gut gebildet sind», sagte die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm in einem Beitrag des SRF1.  Kinder von Akademiker:innen schaffen es gemäss Untersuchungen mit einer Wahrscheinlichkeit von 80 Prozent ans Gymi. Im Gegensatz zu den 24 Prozent der Kinder aus benachteiligten Verhältnissen – bei gleichen Leistungen und gleichem intellektuellem Potential. Die Chancen auf eine akademische Laufbahn oder Vermögen im Erwachsenenalter sinken noch mehr, wenn die Arbeiter:innen-Kinder zusätzlich von Rassismus betroffen sind oder eine Behinderung haben. Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sehen anders aus.  

In den letzten Jahren lesen und lernen wir immer mehr über die unterschiedlichen Diskriminierungsformen, zum Beispiel eben über Klassismus. Immer wieder fallen dabei auch die Begriffe  «Chancengleichheit» und  «Chancengerechtigkeit». Doch was bedeutet es überhaupt, eine Chance zu haben? Wann sind Chancen gleich und wann gerecht? 

Chancengleichheit vs. Chancengerechtigkeit 

Erst einmal muss man die beiden Begriffe unterscheiden: «Chancengleichheit meint die gleichmässige Verteilung von Ressourcen. Chancengerechtigkeit» die Verteilung bestimmter Ressourcen für die Personen, die diese brauchen, um an die gleichen Chancen zu gelangen», schreibt das Paul-Scherrer-Institut. Historisch gesehen wäre die Chancengleichheit übrigens ein zentrales Ziel des Liberalismus. Denn wer eine gerechte Leistungsgesellschaft will und dass Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen, muss die Voraussetzungen schaffen, die es allen ermöglichen.  

Die Professorin und Leiterin des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen Claudia Ziehbrunner erklärt Chancengleichheit am Beispiel der Bildung in einem Artikel der HfH2 so:  «In der Schweiz erhalten alle Schüler:innen eine gesetzlich geregelte Schulbildung, und zwar unabhängig davon, ob sie beispielsweise einem Arbeiter:innen-Milieu oder einem akademischen Milieu entstammen. Damit verbindet sich im Erwachsenenalter einen höheren sozio-ökonomischen Status zu erreichen.» Einen sozio-ökonomischen Status zu erhalten, heisst: ein höheres Einkommen, mehr Macht und weitere Privilegien. Und zwar durch Leistung.  

«Nutze deine Chance», sagte mein Vater. Was auch so viel heisst wie: «Nutze die Chancengleichheit». In der Mathematik ist Chance die Möglichkeit des Eintreffens eines günstigen Ereignisses mit einer mathematischen Wahrscheinlichkeit, die größer als Null, aber kleiner als Eins, ist. Man bezeichnet dann auch oft die Wahrscheinlichkeit selbst als Chance. Doch anders als in der Mathematik hängt es von vielen psychologischen und soziologischen Faktoren ab, ob ich meine Chancen, die durch Chancengleichheit geschaffen werden, nutze: Resilienz, Zufall, Glauben, innere kritische Stimmen, meine aktuelle Gesundheit, meine Prägung, meine Lebenssituation.

Würfel als Symbol für Zufall und Chance
Sind echte Chancen heute eigentlich nur Zufall?

Es braucht beides 

Ziehbrunner erklärt auf der Homepage der HfH weiter, warum es deshalb zur Chancengleichheit auch die Chancengerechtigkeit braucht: «Standardisierte Bildungsangebote in demokratischen Bildungssystemen treffen auf individuelle Lernausgangslagen, Interessen und Neigungen. Es besteht das Risiko, dass sich systematische Benachteiligungen manifestieren und dadurch soziale Ungleichheiten produziert beziehungsweise reproduziert werden.» 

Chancengerechtigkeit heisst also auch: Klassismus, wie ich ihn erlebte, zu benennen und zu bekämpfen. Und gegen jegliche anderen Diskriminierungsformen anzugehen: Wie zum Beispiel Behindertenfeindlichkeit, Sexismus, Rassismus, Homo-Feindlichkeit, Trans- oder Fettfeindlichkeit. Am Beispiel der Schule heisst das, dass sie erst gerecht ist, wenn kein Kind aufgrund seiner Behinderung, Herkunft oder seines Geschlechts benachteiligt wird. «Das heisst nicht, dass dann alle die gleichen Chancen haben. Aber sie werden alle gleichermassen in die Lage versetzt, ihr Potenzial auszuschöpfen», schreibt die HfH. Im Unterschied zur Chancengleichheit aller Menschen, ist die Chancengerechtigkeit in der Bundesverfassung3 verankert (Art. 41 Abs. 1f; Art. 8 Abs. 2). Es wäre also unser aller Pflicht, diese umzusetzen.  

Trotz vieler Privilegien, die ich geniesse: Ich bin weiss, habe einen Schweizer Pass, keine Behinderung, eine günstige Wohnung, keine Krankheit – weiss ich, wie es ist, nicht diejenigen Voraussetzungen und Lebensumstände zu haben, die es bräuchte, um diese zu verbessern. Ich habe kein Erspartes und auch keine vermögenden Eltern, um eine Weiterbildung zu machen oder eine Matura nachzuholen, geschweige denn grosse Projekte umzusetzen. Ich war lange alleinerziehend mit meinem Sohn und meine Tochter hat eine Behinderung. 

Soziales Kapital 

Meine Möglichkeiten liegen einzig in meinem sozialen Kapital, in meiner Leistung und dass ich, im Gegenteil zu damals in meiner Kindheit, meine Chancen heute nutze. Zum Beispiel mit Ting. 

Ting - stützt Chancengerechtigkeit

 

Bei Ting zählt nicht Qualifikation, Businessplan oder Hintergrund. Bei Ting zählt das Bedürfnis sich weiterzuentwickeln und intrinsisch motiviert einen Mehrwert für die Gesellschaft zu schaffen. Bei Ting zahlen alle Mitglieder monatlich auf ein Gemeinschaftskonto ein. Wir bauen zusammen ein Vermögen auf, das allen transparent und in Form zeitlich begrenzter, finanzieller Grundsicherung zur Verfügung steht. So entsteht Raum für persönliche Weiterentwicklung, Bildung, Innovation und Unternehmerisches. #tingting

 

Wie es genau funktioniert?

Mehr dazu

Mehr zum Thema

Das Ting Team empfiehlt...

 

Begriffe klären: «Wer in Bezug auf unser Bildungssystem von Chancengerechtigkeit spricht, legitimiert somit, dass Lernende aus einem privilegierten Umfeld bessere Startchancen und damit bessere Bildungschancen haben.» Online lesen

Gerechtigkeit erforschen: «Es gibt zwei Blickwinkel auf Gerechtigkeit. Bei dem einen geht es darum, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu definieren. (...) Bei einem anderen Ansatz wird erforscht, was die persönliche Vorstellung von Gerechtigkeit beeinflusst; also vom sozialen Umfeld, den finanziellen Möglichkeiten bis hin zu Religion.» Podcast hören

Chancenrealitäten verstehen: «Jede:r soll dieselben Chancen auf Bildung haben, egal welche Herkunft, Sprache und finanzielle Möglichkeiten jemand hat. Doch die Realität sieht anders aus.» SRF schauen

Ziele setzen: Ziel 4 für nachhaltige Entwicklung (SDGs) «Inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern.» Online lesen

Quellen: 1) SRF 2) HfH 3) Bundesverfassung
Bilder: Ting | Juri Seger und Unsplash

Liebe Marah: Dein Text und dein Mitwirken bei Ting ist so wertvoll. 💚
 

Teilen